Die 72. Berlinale findet als Präsenzveranstaltung statt - trotz massiver Infektionszahlen will man das Kino hochleben lassen.
Mariette Rissenbeek und Carlo Chartrian haben eine Herkules-Aufgabe vor sich: Sie werden am Donnerstag die 72. Berlinale eröffnen, obwohl im Hintergrund eine große Omikron-Welle tobt. Es gab viel Kritik an der Entscheidung des Festivals, in Präsenz stattzufinden. Aber die beiden Leiter der Berlinale haben auch gute Argumente für die Präsenzveranstaltung: „Wir haben uns wirklich extrem viele Gedanken gemacht, wie man dieses Festival möglichst reduziert umsetzen kann, sodass es trotzdem noch die öffentlichkeitswirksame Funktion hat“, sagte Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek. Und legt nach: „Die Filme, die hier laufen, brauchen diese Aufmerksamkeit“.
Das ist wohl wahr, aber auch riskant: Nirgendwo in Deutschland sind die Inzidenzen derzeit so hoch wie in Berlin, weshalb sich die Berlinale strikte Sicherheitsregeln verordnet hat: Der European Film Market findet dieses Jahr nur online statt, was Tausende Besucher weniger bedeutet. Stattdessen werden gut 1.700 Medienvertreter erwartet (in normalen Jahren rund 3.500), nur Geimpfte mit aktuellem Corona-Test dürfen ins Kino, die Tests müssen täglich neu und vor Ort gemacht werden. Bleibt zu hoffen, dass die Warteschlangen nicht zum Cluster werden. Die Kinos werden nur zu 50 Prozent und schachbrettartig belegt, jedes Ticket muss vorab reserviert werden, zugleich ist die Wahl des Sitzplatzes nicht möglich, sondern erfolgt automatisch. Die Anzahl der Festivaltage für die Presse wird von zehn auf sechs verkürzt, die restlichen Tage bis 20. Februar sollen ganz dem Berliner Publikum gehören. Die Bären werden schon am 16. Februar verliehen, nicht erst am Ende des Festes.
Die Berlinale will mit diesem Aufwand ein Zeichen setzen, dass das Kino als primäre Abspielform von Filmen nicht tot ist. Nach zwei Jahren Pandemie ist es aber schwer angeschlagen, auch durch das Aufkommen immer neuer Online-Angebote. Dem Trend widersetzt sich Deutschlands größtes Filmfestival: Zum Auftakt serviert man „Peter von Kant“ von François Ozon, eine freie Interpretation von Rainer Werner Fassbinders „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ (1972). Außerdem werden neue Arbeiten von Regisseuren wie Claire Denis, Nicolette Krebitz, Rithy Panh, Ursula Meier, Hong Sangsoo oder Andreas Dresen zu sehen sein, die Jury-Präsident M. Night Shyamalan („The Sixth Sense“) zusammen mit seiner Jury begutachten wird.
Österreich ist heuer stark vertreten
Besonders erfreulich im diesjährigen Berlinale-Programm ist die starke Präsenz des österreichischen Films: Mit „Rimini“ läuft Ulrich Seidls neuer Spielfilm im Bewerb um den Goldenen Bären, es ist sein erster Film seit sechs Jahren. Michael Thomas spielt den gefallenen Schlagerstar Richie Bravo, der im winterlichen Rimini mit Geldforderungen seiner erwachsenen Tochter konfrontiert wird.
Im Wettbewerb „Encounters“ sind gleich drei heimische Arbeiten mit dabei: Ruth Beckermanns „Mutzenbacher“ lässt Männer bei einer Casting-Situation Textproben aus dem Roman „Josefine Mutzenbacher“ lesen und diskutieren, aus jenem erotischen Buch über eine Wiener Prostituierte, das 1906 anonym erschien und zum Skandal wurde. Regisseurin Kurdwin Ayub erzählt in ihrem Film „Sonne“ von drei Wiener Teenagerinnen, die via Social Media in einen Shitstorm geraten. Außerdem ist noch „A Little Love Package“ des gebürtigen Argentiniers Gaston Solnicki, eine österreichisch-argentinische Koproduktion, in der Reihe zu sehen. Constantin Wulff steuert mit „For the Many“ eine Doku über die Arbeiterkammer bei.